Im Frühjahr 2020 gab es einen großen Einschnitt für unsere Gesellschaft. Es war kein historisch-politisches Ereignis, sondern eine Pandemie. COVID-19 führt zu einer der größten Krisen unserer globalisierten Welt, die auch in Deutschland direkt spürbar wird. Diese verstärkt die Missstände und Fehlfunktionen der weltweit agierenden Wirtschaftssysteme und beeinflusst unser Leben, wie wir es bisher kannten, massiv: Tausende Todesfälle, Veränderungen zwischenmenschlicher Beziehungen, Digitalisierung unseres Lebens, Zunahme von Überwachung und Kontrolle, existenzielle Zunahme sozialer Ungleichheit usw.
Global gesehen haben Menschen begonnen, sich selbst zu organisieren, um gesundheitlichen und sozialen Problemen kollektiv zu begegnen. Vor allem in den Ländern, wo sich der Staat zurückzieht und die Pandemie leugnet oder verharmlost.
Deutschland ist ein sogenannter Sozialstaat. Die meisten sozialen Hilfsleistungen werden durch Initiativen und Organisationen, die staatlich finanziert werden oder durch kirchliche Träger organisiert. Es gibt kaum Selbstorganisation und Vertrauen in der eigenen Nachbarschaft. Die Menschen erwarten, dass der Staat den Ausnahmezustand managed und Probleme löst. Aber der Staat ist generell für große Krisen, wie eine Pandemie oder die Klimakrise, nicht geeignet, denn zentrale Machtstrukturen ermöglichen keine sinnvolle Intervention im Detail. Trotzdem werden Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen auf uns alle haben.
Der Staat war in Deutschland auf die Pandemie nicht vorbereitet. Obwohl es in unserer globalisierten Welt bereits viele Pandemien gibt. Aber Dinge, die für den Staat gerade nicht relevant sind, haben keine Priorität. Damit können Politiker*innen eben nicht gut punkten. Nun ist die Sache aber akut und es ist ihr Job, politische Entscheidungen zu treffen. Während es in den letzten zweihundert Jahren eine Entwicklung zu mehr Partizipation in politischen Entscheidungsprozessen kam, beobachten wir in der Pandemie genau das Gegenteil. Einige wenige Politiker*innen entscheiden bis in unser tiefstes Privatleben hinein, was wir zu tun und zu lassen haben. Zum Beispiel, mit wie vielen Menschen wir uns treffen dürfen und in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen. Es ist zweitrangig, dass die Kompetenz dafür fehlt. Sie navigieren sich durch Unwissenheit, aber mit entschlossenem Auftreten. Sie wollen schliesslich wiedergewählt oder Kanzlerkandidat*in werden. Da sie die Möglichkeit haben, Maßnahmen zu beschließen, tun sie das auch, selbst wenn sie damit falsche Entscheidungen für alle treffen. Der Staat unterbindet damit lokale, individuelle Lösungen. Und je stärker der Staat ist, umso schwächer ist die Gesellschaft.
Eine schwache Gesellschaft ermöglicht dem Staat seinen Einfluss und seine Reglementierung aller Lebensbereiche zu vertiefen und dafür nutzt er genau solche Momente, wie die aktuelle Krise. Es werden zum Beispiel Gesetze verschärft oder Überwachung und Kontrolle ausgebaut durch eine Zunahme der Digitalisierung.
Die Autorität, welche von Politiker*innen als gewählte Repräsentant*innen ausgeht, hilft aber in der tatsächlichen Bewältigung der Krise nicht, viel mehr sind es die lebensnahen Tätigkeiten, wie zum Beispiel die der Pfleger*innen. Denn die Interessen, die der Staat hier verfolgt, sind nicht unbedingt an den Menschen orientiert. Neben den politischen Prinzipien, funktioniert der Staat auch nach den Regeln des kapitalistischen Marktes. Und die Marktwirtschaft muss laufen. Der Markt muss geschützt werden. Die Produktion geht weiter. Obwohl mehr Autos für die Gesellschaft nicht wichtig sind, hat deren Produktion Priorität vor den Menschen.
Arbeiten ist also in Ordnung, egal ob zu Hause oder in der Fabrik. Freizeit, Regeneration, Kunst und Kultur hingegen nicht. Was wir momentan tun dürfen, ist arbeiten und konsumieren – die systemrelevanten Tätigkeiten im Kapitalismus. Die einen folgen den staatlichen Maßnahmen, um möglichst wenige Personen anzustecken, in der Hoffnung es ist bald vorbei, wenn wir nur diszipliniert sind. Der Rest fährt immer noch im öffentlichen Verkehr jeden Tag zur Arbeit. Soziale Kontakte werden also dort nicht eingeschränkt, wo der Staat es braucht.
In der Debatte erhält der Staat trotzdem viel Zuspruch für die freiheitsbeschneidenden Maßnahmen. Die Akzeptanz autoritärem Handelns schließt auch mit ein, dass Menschen eine klare Ansage haben wollen. Und unser Leben ist stark geprägt von autoritären Strukturen, gegen die es schwer ist anzukämpfen, wie wir aktuell sehen.
Aber diese Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass wir uns auf den Staat nicht verlassen können.
Hin und her gerissen zwischen dem Widerspruch, die Gesundheit unserer Mitmenschen zu schützen und unserer Skepsis vor repressiver Politik, dürfen wir nicht handlungsunfähig sein. Wir müssen unsere Kritik klar benennen und Möglichkeiten finden, in der Krise mehr Menschen dafür zu gewinnen diese Gesellschaft anders zu organisieren.
Wie wollen wir zukünftig arbeiten, wohnen und unsere Gesundheit organisieren? Dafür gibt es viele gute Projekte und Ansätze, wir müssen sie jetzt sichtbar machen und uns jetzt gemeinsam organisieren!
Diesen und weitere Artikel findest du in unserem Zine: Zusammenhalt – Solidarität und Kritik in der Coronapandemie.