Wie sieht die Welt aus in der wir alle gut leben können? Auf welche Weise begegnen sich Menschen? Wie gehen wir mit den Verletzungen um, die aus diesen Begegnung resultieren können?
Viele von uns sind sich sicherlich einig, dass es in unseren Gemeinschaften oft keinen guten Umgang mit Diskriminierung und Konflikten gibt. Ich schreibe diesen Text aus Sicht einer privilegierten, weißen, cis-weiblichen Person. Daraus resultierend werde ich von vielen Diskriminierungs- und Gewaltformen gar nicht betroffen. Dennoch sehe ich in meinem eigenem Leben und dem meiner Freundinnen* den Schmerz und die emotionalen Wunden, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt zurücklassen; in einem Alltag, in dem Menschen generell schon so viel behüteter sind als vielerorts. Wir bewegen uns in einem gesellschaftlichen Gefüge, in welchem viele Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, ihrer geschlechtlichen Identität, ihrer sozialen “Stellung” oder ihres Alters verletzt, ausgebeutet und unterdrückt werden. Personen, die in den Schnittstellen dieser Diskriminierungsformen leben sind dabei besonders verletzlich.
Im folgenden Text verwende ich den Begriff „sexualisierte Gewalt“. Durch diesen Begriff soll verdeutlicht werden, dass es sich um Gewalt handelt, die gezielt durch sexuelle Handlungen ausgeübt wird. Ursprung dieser Gewalt ist aber nicht Sexualität. Vielmehr geht es um die Demonstration von Macht und Überlegenheit. Sexualisierte Gewalt beginnt, wenn Frauen* und Mädchen* auf ihren Körper reduziert, belästigt und gedemütigt werden. Formen sexualisierter Gewalt können sein: anzügliche Blicke, sexistische Bemerkungen, subtiler oder offener Druck zu sexuellen Handlungen, ungewollte Berührungen, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Frauenhandel, Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen* ist kein individuelles Problem. Sie hat gesellschaftliche Ursachen und ist im Zusammenhang mit dem Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern zu verstehen. (entnommen von www.frauen-gegen-vergewaltigung.at/inde…
Als Anarchistinnen wissen wir um das Machtgefüge, welches sich in diesen Diskrimierungsformen manifestiert. Es leuchtet ein, dass dieses Machtungleichgewicht keine Grundlage für eine befreite Gesellschaft sein kann. Dennoch taucht körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt, Rassismus und Klassizismus auch in der anarchistischen Szene auf. Schließlich werden wir alle in dem beschriebenen Kontext sozialisiert und es bedarf viel Selbstreflexion, die eigene Machtposition abzulegen. Doch wenn wir in einer Gemeinschaft leben wollen, die auf Solidarität, gegenseitigem Respekt, Chancengleichheit, guter Zustimmung und weniger Grenzüberschreitungen basiert, müssen wir diese Gemeinschaft selbst aufbauen und täglich erproben. Es wird immer Konflikte, Verletzungen und Widersprüche geben, doch diese können gemeinschaftlich angegangen werden. Wir können sie zusammen anpacken, reflektieren, uns helfen. Dabei ist es wichtig, sich selbst offen einzugestehen, dass jeder von uns Grenzen von anderen Menschen überschreitet, auch immer wieder überschreiten wird und gute Zustimmung in allen Lebenslagen verdammt schwierig (wenn auch wichtig und stets anzustreben) ist.
Grundlage für einen Welt ohne strafende Gewalt in Form von Knästen, Gerichten und Cops wären Strukturen, welche sich den Verursacher*innen und Betroffenen annehmen. (Eine Person kann auch Gewalt ausüben und selbst betroffene Person sein.) Auf eine Weise, die im besten Falle zu Sicherheit, Heilung und Neubeginn bei der von Gewalt betroffenen Person führt und zur Verantwortungsübernahme und Veränderung von destruktiven Verhaltensweisen bei der Gewalt ausübenden Person.
Doch die Gewalt, die täglich in unseren Gemeinschaften verübt wird, kann nicht nur auf zwei Menschen reduziert werden. Wir alle leben in einem sozialen Gefüge, das dominantes Handeln und Grenzüberschreitung, insbesondere bei männlich-sozialisierten Personen, unterstützt. Das Problem ist strukturell, eng verknüpft mit Rape Culture (eine Kultur, die zwischenmenschliche Gewalt entschuldigt, billigt, normalisiert und ermutigt). Dennoch wird jedes strukturelle Problem getragen von Menschen, die es unterstützen, die es hinnehmen oder dazu schweigen.
Um das Schweigen zu brechen scheint die Frage sinnvoll: Wer sind eigentlich diese Menschen, die Grenzen überschreiten, die ihre Macht missbrauchen, die nehmen, was ihnen nicht gegeben wird, die kontrollieren, stalken, eifersüchtig sind, zuschlagen, anbrüllen, unbeherrscht sind, andere verletzen? Das sind nicht irgendwelche außerirdischen Nazi-Schleimmonster, das sind unsere Freundinnen, unsere Partnerinnen, unsere Kolleginnen, Kommilitoninnen, Mitstreiterinnen, das sind wir selbst. Sie der Polizei vorzuführen und in Knäste zu sperren würde klaffende Löcher in unsere sozialen Kontexte reißen und löst das Problem in keinster Weise. Einerseits können die meisten dieser Grenzüberschreitungen auf Grund fehlender Rechtsbegriffe gar nicht juristisch geahndet werden. Andererseits basieren Knäste ja wiederum auf Gewalt, Machtausübung, Unterdrückung und patriarchaler Norm. Keine Lösung also für uns in den Fragen „Wie wollen wir leben?“, „Wie wollen wir grenzüberschreitendes Verhalten aufzeigen? Wie können wir Menschen dazu bewegen Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen?“. Wir brauchen eine transformative Gerechtigkeit, die die Menschlichkeit aller Beteiligten anerkennt, die Personen von Verhalten trennt und die auch anerkennt, dass bestimmtes Verhalten in unserer Gemeinschaft nicht toleriert wird. Gerade als Anarchistinnen müssen wir begreifen, dass Grenzüberschreitungen wie sexualisierte Gewalt tief verwurzelt sind in einer Logik der Macht und Hierarchie. Wie müssen auch begreifen, dass sie aus einer Gemeinschaft/Gruppe kommen, die sie zugelassen und ermöglicht hat.
Eine kollektive Verantwortungsübernahme kann daher nicht nur zwei Menschen betreffen. Ziel ist es sexualisierte, körperliche und psychische Gewalt zu benennen und zu kritisieren. Wir müssen gemeinschaftlich einen Umgang damit finden. Vor allem aber müssen wir aufhören darüber zu schweigen was (uns) passiert. Oft verlassen Betroffene von sexualisierter Gewalt unsere Räume, da ihre Erlebnisse relativiert, Gewalt normalisiert, die Verursacherinnen geschützt werden und es keinen Willen gibt, die dahinterliegenden Strukturen zu entmachten. Andererseits finden Menschen, welche Grenzen überschritten haben vielleicht auch gar keinen Raum das Erlebte zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen. Mit verblüffender Selbstverständlichkeit wird das „Private“ in unseren politischen Kontexten entpolitisiert, sprechen wir in unseren sozialen Räumen lieber von der Weltrevolution als über das übergriffige Verhalten eineseiner Partners*Partnerin. Doch werden gerade in unserem Alltag, in der Schule, auf Arbeit, auf Demos, in der Uni und Zuhause, diese sozialen Ungleichheiten und Zwänge spürbar. Dort leiden wir unter Sexismus, werden kleingemacht, angegraben, objektiviert. Dort profitieren wir von unserer geschlechtlichen Identität oder sozialen Stellung. Genau da könnten wir ansetzen, die Gesellschaft zu verändern.
Ich denke, die Voraussetzung ist, Raum zu schaffen für Emotionalität und Verletzlichkeit. Es wäre schön, wenn wir eine Kultur schaffen, die anerkennt, dass selbst wenn wir alle ernsthaft versuchen gut zu den Menschen in unserer Nähe zu sein, wir manchmal Fehler machen, manchmal Grenzen überschreiten, nicht (ausreichend) nach Zustimmung fragen, nicht aufrichtig mit uns und anderen sind. Erst dann können wir Erlebnisse von übergriffigem Verhalten ernst nehmen, den Betroffenen zuhören, Schutzräume geben, das Umfeld adressieren, gemeinsam reflektieren und Strategien entwickeln, die uns gegenseitig unterstützen und empowern und unsere Beziehungen zueinander transformieren. Das ist verdammt schmerzhaft. Dieser Prozess wird an unsere Substanz gehen, immer wieder eigene Grenzüberschreitungen und Privilegien offenbaren. Wir werden Verachtung und Verzweiflung spüren. Wir werden auch begreifen, dass wir die Möglichkeit besitzen ehrliche, verantwortungsvolle und respektvolle Beziehungen zueinander aufzubauen.
Meiner Meinung nach kann es keine befreite Gesellschaft, keinen verantwortungsvollen Umgang mit anderen Lebewesen und Ressourcen, keinen nachhaltigen Aktivismus geben, ohne genau diese Art der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Unser Privatleben ist politisch, dort werden sexistische Muster und soziale Zwänge reproduziert. Das Schweigen darüber schützt Gewalt ausübende Personen. Beendet das Schweigen. Fragt nach. Unterstützt von körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt betroffene Menschen. Baut eine Gemeinschaft der Solidarität auf, ein Netzwerk, in welches sich von Gewalt betroffene Personen fallen lassen können; ein Netzwerk, das Verursacher*innen die Möglichkeit bietet, Verantwortung zu übernehmen.
The Revolution starts at home.