Begegnungen mit Anarchist*innen im Krieg – Ein ziemlich langer Bericht über unsere Solidaritätsreise in die Ukraine

Ende Oktober 2025 machte sich eine kleine Gruppe aus Dresden – Aktivist*innen von ABC Dresden, malobeo, der FAU und der Queer Pride Dresden – auf zu einer Solidaritätsreise in die Ukraine. Wir packten einen Kleinbus bis unters Dach voll mit Sachspenden, die wir in Dresden gesammelt hatten und fuhren los, nicht nur, um die Sachen zu überbringen, sondern auch, um die Kontakte zu Menschen und Gruppen zu pflegen, die auf ganz verschiedene Arten und Weisen Russlands großangelegter Invasion trotzen. Wir wollten zuhören und von denen lernen, die vom aktuellen Kriegsgeschehen direkt betroffen sind, Gespräche führen, Erfahrungen austauschen und tragfähige Solidaritätsnetzwerke knüpfen.

Die Reise beginnt mit einer langen Fahrt zur ukrainischen Grenze, die sich aber kürzer anfühlt als die fünf Stunden, die wir an ihr warten müssen. Spätabends erreichen wir endlich Lwiw, wo uns Shelter von der Lviv Vegan Kitchen willkommen heißt.

Shelter ist überzeugter Veganer und rettet leidenschaftlich gern Lebensmittel, außerdem kämpft er in einer Freiwilligeneinheit. Direkt nach dem großangelegten Einmarsch Russlands in die Ukraine trat er einer Einheit der Territorialverteidigung bei, aber nach ein paar Monaten kehrte er nach Lwiw zurück und wurde zu einem aktiven Teil des Kollektivs um die Vegan Kitchen. Mittlerweile gehört er einer freiwilligen Artillerieeinheit an. Ein Grund für sein Engagement in einer Freiwilligeneinheit ist, dass es in solchen Formationen mehr Mitsprachemöglichkeiten gibt, was getan wird und wo, als in der regulären Armee.

Im Kriegszeiten suchen Menschen nach eigenen Wegen, Unterstützung zu leisten, nach eigenen Bereichen, in denen sie etwas beitragen können. In diesem Sinne haben sich die Leute hinter Lviv Vegan Kitchen die Versorgung mit veganen Lebensmitteln auf die Fahne geschrieben. Das Kollektiv hat sich nur wenige Tage nach dem Einmarsch 2022 gegründet, als Tausende nach Westen flohen. Sie beschlossen, für sie zu kochen, und finanzierten das ausschließlich durch Spenden.

Bis Juni 2024 gab das Kochkollektiv täglich bis zu fünfhundert warme Mahlzeiten an Binnenflüchtlinge aus. Aber als die Spenden ausblieben, mussten sie diesen Teil ihrer Arbeit einstellen – doch das war nicht das Ende der Gruppe. Sie fanden ein neues Betätigungsfeld: Essen für Veganer*innen an der Front. Die vom Militär bereitgestellten Rationen sind nicht vegan und selbst wenn eine Einheit über eine eigene Küche verfügt, gibt es keine vegane Verpflegung, da den Gerichten Fleisch und Käse zugesetzt werden.

Also begann das Kollektiv, zu kochen, zu backen und Päckchen an die Front zu schicken: Falafel, Seitan, Syrniki (Ukrainische aus Quarkteig hergestellte Pfannkuchen), Kekse und andere haltbare, vegane Lebensmittel, die lange Wege und raue Bedingungen aushalten. Sie entwickelten sogar ihren eigenen Energieriegel, der Soldat*innen zufolge ein echter Renner ist.

Wir besichtigen ihren Lagerraum. Er ist improvisiert, DIY, aber mit viel Liebe zum Detail eingerichtet: Regale mit akkurat beschrifteten Beuteln und Kisten, eine Gefriertruhe voll mit vakuumiertem Seitan und Falafeln, alles erstaunlich ordentlich und professionell. Hier packt Shelter Pakete mit veganen Fertigprodukten und füllt Gewürze in Zip-Tüten, stellt Sets mit Instantsuppen und Tomatenmark zusammen, wiegt Hefeflocken und Sojagranulat ab: alles, was Soldat*innen brauchen, um sich an der Front selbst eine ordentliche vegane Mahlzeit zuzubereiten. Um eins der Pakete zu erhalten, müssen sie nur ein Onlineformular ausfüllen – und schon macht sich eins von Shelters Päckchen auf den Weg zu ihnen.


Auf der langen Fahrt nach Kyjiw laden wir uns Warnapps für Luftangriffe herunter. Wir können auswählen, für welche Region wir Benachrichtigungen erhalten wollen. Außerdem abonnieren wir auch ein paar Telegram-Kanäle, die über die gesichtete Raketen oder Drohnen informieren und manchmal von Freiwilligen, manchmal von offiziellen Stellen betrieben werden.

Kurze Zeit später beginnen unsere Handys zu vibrieren und zu heulen. Luftalarm in Kyjiw, Luftalarm in der Region Sumy. Die App ermahnt uns höflich, den nächstgelegenen Luftschutzraum aufzusuchen und ruhig zu bleiben. Wir sind noch nicht einmal in der Nähe besagter Gebiete, aber schon jetzt werden uns die ständigen Meldungen zu viel. Wir schalten unsere Telefone auf stumm und tun so, als würden wir nichts davon mitbekommen. Die Entwarnungen in der App schließen mit den Worten: „Möge die Macht mit dir sein.“

Bei unserer Ankunft in Kyjiw wirkt die Drei-Millionen-Einwohner-Stadt sonderbar ruhig. Der öffentliche Nahverkehr geht bis 22 Uhr, die letzte Metro fährt wenig später, und um Mitternacht fegt die Ausgangssperre die Straßen leer.

Am nächsten Tag treffen wir uns mit zwei Mitgliedern der Studierendengewerkschaft Prjama Dija, was übersetzt so viel wie Direkte Aktion bedeutet. Eine Person mit langen lockigen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind, und einem Pulli mit der Aufschrift ‚No Photo‘ kommt uns an der Metrostation entgegen, eine zweite mit Glatze und langen, vor sich hin klimpernden Ohrringen lächelt und winkt uns zu. Ein großes Gebäude mit leeren Fensterhöhlen auf der Straßenseite gegenüber fällt uns ins Auge – eine Fabrik, die immer wieder bombardiert wird.

Während wir zusammen durch das Viertel laufen, kommen wir an einem weiteren stark beschädigten Gebäude vorbei. Aber um den völlig ausgebrannten Bau herum geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, einkaufen oder führen einen kleinen Plausch am Marktstand. Trotz des laufenden Krieges ist Kyjiw quicklebendig.

Wir kommen bei einem selbstorganisierten Raum in der Kunstuniversität an, der einen improvisierten, aber gleichzeitig liebevoll eingerichteten Eindruck macht. Wir nehmen auf selbstgebauten Paletten-Sofas Platz, über die bunte Häkeldecken gebreitet sind, daneben ein schmales Regal mit Zines und Büchern. An den Wänden hängen Gemälde mit abstrakten geometrischen Formen und kleinere Kunstwerke stehen auf minimalistischen Wandregalen. Es sieht aus wie in einer Wohnzimmergalerie oder einem sozialen Zentrum.

Die Studigewerkschaft Prjama Dija gibt es schon seit den frühen Neunzigern; mehrere Generationen von Aktivist*innen sind durch sie hindurchgegangen, mehrmals wurde sie aufgelöst, nur um ein paar Jahre später wiederaufzuerstehen. Unsere Gesprächspartner*innen erzählen, wie sie die Gewerkschaft im Jahr 2023 – nur wenige Monate nach Beginn der großangelegten Invasion – mit zunächst drei Mitgliedern neu gründeten. Die Erkenntnis, wie dringend nötig eine vereinte Stimme aller Studierenden, auch in Kriegszeiten, ist, trieb sie an. Aktuell zählt die Organisation insgesamt rund 300 Mitglieder in verschiedenen ukrainischen Städten.

Ihre Tätigkeitsfelder reichen vom Kampf gegen Stipendienkürzungen und Wohnheimräumungen bis zur Auseinandersetzung mit psychischer Gewalt und Machtmissbrauch vonseiten der Dozent*innen. Sie wollen Bildung fair und zugänglich machen – „zum Wohl der Studierenden und nicht für die Taschen des reichsten Ein Prozent“, wie sie sagen. Dafür organisieren sie Veranstaltungen, Protestaktionen und veröffentlichen Zines über die aktuelle Lebenssituation von Student*innen und über ihr aktivistisches Durchhaltevermögen auch in Zeiten des Krieges.

Auf dem Tisch vor uns breiten die zwei Gewerkschafter*innen Sticker und Flyer der Organisation aus. Sehr oft ist eine schwarze Katze zu sehen – einmal in einem Kreis in Anlehnung an das Antifa-Logo, ein andermal mit einer pinken Schleife um den Hals und dem ukrainischen Schriftzug ‚Solidarität‘ daneben. Hello Kitty mit einer AK-47, Marx als Bubu in einen Bunny-Overall. Nestor Machno.

Für die Gewerkschaft ist Bildung kein Privileg und auch keine Ware. Sie sollte kostenlos und allen frei zugänglich sein. Sie sollte antikapitalistisch sein. Sie sehen ihren Kampf im Kontext der Arbeiter*innenbewegung: Es geht nicht einfach nur um bessere Studienbedingungen, sondern ist ein Teil eines weitergehenden Strebens nach allumfassender Befreiung.

Mehr Infos zu Prjama Dija gibt es hier: www.priama-diia.org


Am Nachmittag treffen wir Aktivist*innen von verschiedenen Gruppen im Büro von Solidarity Collectives. Über unseren Köpfen hängen eine anarcha-feministische und eine antifaschistische Flagge; auf einem Regal steht ein gemaltes Porträt des russischen Anarchisten Dmitri Petrow, der im Zuge der Kämpfe gegen den russischen Imperialismus 2023 in Bachmut gestorben ist; in einer Ecke stehen mehrere Zeichnungen des ukrainischen anarchistischen Künstlers David Chichkan, der dieses Jahr an der Front umgekommen ist. Eins zeigt drei Soldat*innen mit kleinen anarcha-feministischen und anarcho-syndikalistischen Abzeichen an den Uniformen. Hinter ihnen ein blauer Himmel mit weißen Wolken und darin ein blasses Porträt von Nestor Machno, als würde dort die Inspiration für die derzeitigen Kämpfe aufscheinen.

Wir treffen Iryna von Feminist Lodge, einer Basisinitiative, die 2017 in Kyjiw gegründet wurde und für Geschlechtergerechtigkeit kämpft. Mit dem Beginn des vollumfänglichen Krieges hat sich ihr Fokus auf die Versorgung von benachteiligten Frauen und deren Familien mit humanitären Hilfsgütern verlagert, die sie in ländlichen Gebieten – ehemals besetzte Gebiete eingeschlossen – und an Binnenflüchtlinge verteilen.

Mehr Infos zu Feminist Lodge findet ihr hier: www.instagram.com/feministlodge

Neben Iryna sitzt Andrij von Sozialnyj Ruch (Social Movement), einer ukrainischen linken Organisation, die branchenübergreifend Arbeiter*innen unterstützt – von Bergbau und Transport bis hin zum Gesundheitssektor, Bildung und IT. 2022 riefen sie die internationale Linke auf, den ukrainischen Widerstand gegen den russischen Imperialismus zu unterstützen und kritisierten die von der Regierung mit dem Kriegsstatus gerechtfertigten Einschränkungen des Arbeitsrechts.

Hier könnt ihr mehr über sie erfahren: https://rev.org.ua/sotsialnyi-rukh-who-we-are/

Dann ist da Mykola von Solidarity Collectives – blonder Wuschelkopf, kleine Silberringe in den Ohrläppchen, eine Retro-Joggingjacke, die aussieht wie aus einem Berliner Vintageladen, schwarze Cargohosen. Er raucht selbstgedrehte Zigaretten und sieht müde aus.

Solidarity Collectives besteht aus antiautoritären Aktivist*innen, die sich zu Beginn des großangelegten Einmarschs der russischen Armee zusammengeschlossen haben. Sie unterstützen antiautoritäre Genoss*innen, die an vorderster Front kämpfen, und Menschen, die direkt vom Krieg betroffen sind: Sie leisten humanitäre Hilfe, stellen selbst First-Person-View-Drohnen her und evakuieren Tiere.

Mykola erzählt, dass schon viele Freiwillige durch die Initiative hindurchgegangen seien, dass es zu wenige Aktive gebe, dass alle erschöpft seien. Zu Beginn der Invasion leistete er humanitäre Hilfe, lieferte Baumaterialien in ausgebombte Dörfer im Osten und half den Rückkehrer*innen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Eines Tages kehrte er in eine Siedlung zurück und musste feststellen, dass dieselben Häuser, die er instand gesetzt hatte, schon wieder in Schutt und Asche lagen und dass die, die darin gelebt hatten, schon wieder fliehen mussten. Es war ein harter Schlag für ihn, zu sehen, wie vergeblich seine Sisyphusarbeit gewesen war. Jetzt baut er Drohnen für antiautoritären Soldat*innen.

Hier gibt es mehr Infos zu Solidarity Collectives: www.solidaritycollectives.org/en

Was allen Gruppen, mit denen wir sprechen, gemeinsam ist, ist tiefe Erschöpfung. Nach beinahe vier Jahren Krieg ist Burnout eine der größten Herausforderungen. Eine Krise folgt auf die nächste, der Hilfsbedarf hört nie auf. Keine Zeit zum Ausruhen neben Arbeit und Aktivismus. Aber trotz der allgemeinen Müdigkeit sind alle freundlich und geduldig – das Lächeln braucht manchmal ein bisschen länger, aber wenn es endlich erscheint, ist es aufrichtig.

Plötzlich ein Stromausfall. Die gibt es im Moment ständig und sie nehmen durch die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur weiter zu. Manchmal sind sie angekündigt, manchmal nicht. Örtliche Energieversorger oder die Stadtverwaltung stellen auf ihren Websites oder auf Telegram Übersichten über geplante Unterbrechungen zur Verfügung, sodass alle sich darauf einstellen können.

Am Abend nach unserem Besuch im Solidarity-Collectives-Büro kündigt sich ein großer Luftangriff an. In den Telegram-Kanälen blinkt eine Warnung nach der anderen auf. Die Leute von hier geben sich unbeeindruckt: „Diese Warnungen gibt es jeden Tag“, sagen sie: „Man kann nicht für immer im Luftschutzkeller hocken.“

Gegen ein Uhr nachts werden wir von einem unserer Genoss*innen geweckt. Wir packen leise ein paar Dinge zusammen, gehen raus in die Kälte und laufen zu einer Tiefgarage in der Nähe, die als improvisierter Schutzraum dient. Wir legen unsere Isomatten hinter ein paar dort abgestellte SUVs, schlüpfen in unsere Schlafsäcke und hören auf das Heulen der Sirenen und das Donnern der Flugabwehr in der Ferne. Oder schnarcht nur jemand, und wir bilden uns das Ganze ein? Eine Familie mit Campingausrüstung und einem winzigen Hund läuft vorüber. Wir verbringen die Nacht in der Tiefgarage.

Am Morgen erfahren wir, dass es sich um einen der größten Luftangriffe seit Beginn der Invasion gehandelt hat – mehr als siebenhundert Flugkörper, darunter Drohnen, Marschflugkörper, Täuschkörper sind im ganzen Land heruntergegangen. Wir schauen uns eine Grafik an, die die Angriffe der vergangenen Nacht visualisiert und über die gesamte Karte ziehen sich verschiedenfarbige Linien: Geran-2- und Garpija-Kampfdrohnen, Marschflugkörper, ballistische und luftgestützte ballistische Raketen, Ch-101, Iskander-K, Kalibr, Iskander-M und Kinschal, Köderdrohnen vom Typ Gerbera.

Manche von uns googlen nach den militärischen Bezeichnungen und fragen sich, was sie bedeuten und was sie eigentlich zu bedeuten haben. In den offiziellen Verlautbarungen heißt es immer, Russland würde die Energieinfrastruktur und militärische Objekte angreifen, aber Fabriken, Wohnhäuser und Zivilist*innen sind ebenso betroffen.

Später gehen wir zum Majdan Nesaleschnosti (Unabhängigkeitsplatz) – ein Ort, der eine tiefgehende historische und emotionale Bedeutung für die Ukraine hat: Eine Welle von Demonstrationen und Ausschreitungen, die einhundert Toten der Revolution. Heute schmücken rostige Barrikaden aus der Zeit des Aufstands den Bürgersteig, auf denen kleine, recht informell wirkende Tafeln angebracht sind, die über die Unruhen informieren, auf einer ist ein Bierkasten voller Molotow-Cocktails zu sehen.

Außerdem ziert den Platz ein großer, in Rot gehaltener Schriftzug, der I ♥ Ukraine verkündet, ähnlich wie I ♥ Paris oder I ♥ London andernorts. Darum herum befindet sich ein Feld von abertausenden gelb-blauen Flaggen, jede mit dem Namen einer Person, die im Laufe des Krieges getötet wurde. Hier und dort ist eine Ansammlung anderer Flaggen zu sehen – USA, Georgien, Belarus und in einer Ecke ein paar wenige anarchistische Flaggen. Das Bild eines jungen Menschen mit dem Spitznamen Anarchia fällt uns ins Auge.

Arbeiter*innen oder vielleicht einfach Anwohner*innen, die sich um den Ort kümmern, sammeln vorsichtig Herbstblätter von den gelb-blauen Plastikblumen und fegen den Boden. Einige Leute laufen still die engen Pfade entlang, die sich durch den Gedenkort schlängeln. Ein Mann mit einer Handprothese steht reglos auf ein paar Stufen und weint. Er humpelt weiter durch das Flaggenmeer, das die Toten repräsentiert. Die ungleiche Betroffenheit von Gewalt im Krieg, der am häufigsten männliche Körper zum Opfer fallen, trifft uns wie ein Schlag.

Vom Majdan aus machen wir uns auf den Weg zu Babyn Jar, wo wir den Rest unserer Gruppe wiedertreffen.

Die Wege und Rasenflächen des ruhigen, weitläufigen Parks sind mit gelben und orangen Blätter übersät. Über die Grünanlage verteilt stehen Denkmäler. Es ist ein furchtbarer Ort. 33.771 Jüd*innen (laut Statistik der Mörder*innen) wurden hier an nur zwei Tagen während des Zweiten Weltkriegs getötet, mehr als in jedem anderem von den Deutschen verübten Einzelmassaker. Insgesamt töteten die Nazis zwischen 1941 und 1943 ungefähr einhunderttausend Menschen, darunter fast die gesamte jüdische Bevölkerung Kyjiws, in der Schlucht, die sich hier befand, bevor die Gegend in der Zeit der Sowjetunion komplett umgestaltet wurde. Babyn Jar ist ein düsterer Fleck auf der Landkarte des Holocaust – der Ort der größten Massenerschießung, die die Nazis im Laufe ihres Feldzugs gegen die Sowjetunion durchführten.

Wir kommen an einer Installation aus rostigem Eisen in der Form eines Planwagens vorbei, um den sich eine Kette aus eisernen Blumen rankt. Auf den Steinen darunter stehen ein paar Kerzen. Es ist ein Denkmal für die Roma, die in Babyn Jar ermordet wurden. Dahinter parkt ein alter Traktor, der der Pflege der Rasenflächen und Bäume ringsum dient.

Wir laufen weiter in den Park hinein. Jogger*innen überholen uns, Hunde werden ausgeführt, das Leben fließt ruhig durch diesen Ort unvorstellbaren Grauens. Wir erreichen eine moderne audiovisuelle Installation, die die Größe eines Basketballfeldes hat und den Namen Spiegelfeld trägt. Die runde, spiegelnde Plattform mit zehn hohen Säulen besteht komplett aus Edelstahl. Alle Oberflächen wurden mit Kugeln durchschossen, die dasselbe Kaliber haben wie die, die die Nazis hier für ihre Hinrichtungen genutzt haben.

Laut Beschreibung greift die Installation das Symbol des Baums des Lebens auf, das sich in vielen Religionen und Mythen findet. Die Tragödie von Babyn Jar zeige, wie einfach der Baum zerstört und seine Äste abgebrochen werden können. Aus den Säulen dringen Orgelklänge – es handelt sich um Musik, deren Töne aus den Namen der Opfer generiert wurden. Wie laufen langsam über die metallische Fläche, betrachten unsere durchschossenen Spiegelbilder und hören den Echos von Liedern in Jiddisch aus den 1920er und 1930er Jahren zu. Die Reflexionen unserer selbst lassen uns nicht los.

Genauere Informationen zu Babyn Jar findet ihr hier: https://babynyar.org

Am Abend nehmen wir die Metro nach Podil, einem lebhaften Kyjiwer Stadtteil. Jemand muss aufs Klo, und eine Genossin erklärt uns, dass man überall in der Ukraine nach Wasser oder der Toilette fragen kann – niemand wird dich wegschicken oder Geld verlangen.

Wir steigen auf einen Hügel, wo Aktivist*innen aus Kyjiw einen Baum für Dima Petrow, einen in diesem Krieg getöteten Anarchisten, gepflanzt haben. Es ist schon dunkel, wir stolpern durchs Dunkel, bis wir den Baum endlich ausfindig machen. Von hier oben betrachtet breitet sich die Stadt riesig und leuchtend vor uns aus. Von hier sind auch die Stadtteile am linken Dnjepr-Ufer und die hellen, sich drehenden Lichter des Riesenrads zu sehen. Plötzlich dröhnen Sirenen durch die Stille. Handys fangen an, zu vibrieren. Eine Person fängt an, die Alarmkarte zu checken, aber ein hiesiger Genosse beruhigt uns: „Macht euch keine Sorgen, solche Orte wie diesen greifen die nicht an.“

Wir gehen bergab Richtung Podil. Das Viertel wirkt ein bisschen wie die Dresdner Neustadt – Hinterhof-Raves, Studibars, Spätis, Gay Clubs, verzierte Fassaden. Die Leute sehen umwerfend aus, unglaublich selbstbewusst; wir sehen sogar ein paar Leute mit Puppy Masks. Nur ein paar Straßen weiter kommt einem der Stadtteil dann fast schon wie ein Industriegebiet vor.

Wir wollen mehr über das Leben junger Menschen hier wissen. Jemand fragt Iryna von Feminist Lodge, wie die Kyjiwer Clubs so seien. Sie lächelt, schreibt ein paar Namen auf und sagt: „Sie sind gut, aber die besten Raves gibt’s in Charkiw. Die Leute dort feiern anders. Sie sind dem Tod so nah, dass sie irgendwie mehr am Leben sind.“

Und wieder ein Stromausfall. Die Straßen werden plötzlich dunkel. Lebensmittelläden und Bars schmeißen ihre Generatoren an. Es ist laut, dunkel und riecht nach Benzin – aber das Leben geht weiter.

Am nächsten Tag wollen ein paar aus unserer Gruppe das Tschornobyl-Museum besuchen, das der Nuklearkatastrophe von 1986, die sich unweit von Kyjiw ereignet hat, und ihren Konsequenzen gewidmet ist. Doch das Museum wird gerade renoviert und ist geschlossen. Zementsäcke und Baumaterialien liegen herum. Über ihnen hängen Ortsschilder von Dörfern, die nach dem GAU evakuiert wurden – die Namen sind durchgestrichen, stehen symbolisch für das Ende von so vielen Orten. Im Museumsshop gibt es Patronenhülsen aus diesem Krieg, die mit Atomsymbolen bemalt sind. Daneben steht ein Vollschutzanzug, wie er in Tschornobyl verwendet wurde, aus dem sich der Träger verflüchtigt zu haben scheint, und auf dem Boden liegt eine Werkzeugkiste mit Strahlungsdetektoren. Ein netter Museumsangestellter bietet uns AR-Brillen an, mit denen wir einen virtuellen Rundgang durch die Geschichte und den riesigen Gebäudekomplex des Atomkraftwerks in Tschornobyl machen können.

Tschornobyl ist nicht nur Geschichte – all das fühlt sich wieder hochaktuell an. Die Gefahr erscheint real angesichts der Berichte über Unterbrechungen der externen Stromversorgung beim Atomkraftwerk in Saporischschja und über russische Soldat*innen, die zu Beginn der Invasion in der Nähe von Tschornobyl Schützengräben in die verseuchte Erde gegraben haben. Und dieses Gefühl verstärkt sich noch, als wir während unseres Aufenthalts erfahren, dass die russische Armee damit begonnen hat, Umspannwerke der Atomkraftwerke in Riwne und Chmelnyzkyj zu beschießen – also in Städten, die sich mehrere hundert Kilometer westlich von Kyjiw befinden.

An diesem Abend treffen wir Kateryna, die eine anarchistische Bibliothek betreibt, die im Moment ausschließlich online existiert. Sie hat uns in ihre ehemalige Wohnung eingeladen, wo die Bücher momentan gelagert werden. Leben kann sie hier nicht mehr, weil das Viertel permanent bombardiert wird. „Das ist einfach zu stressig“, sagte sie.

Kateryna heißt uns in ihrer kleinen Küche mit Tee, Waffeln und Geleefrüchten willkommen. Sie hat langes, lockiges Haar und spricht Ukrainisch, aber wechselt zu Russisch, um uns die Kommunikation zu erleichtern. Sie zeigt uns, wie sie die Bibliothek digitalisiert haben. Was sie besonders froh macht, ist, dass auch Soldat*innen die Angebote der Bibliothek nutzen. „Es macht mir Hoffnung“, sagt sie, „wenn sie schreiben, dass die Bücher ihnen dabei geholfen haben, die Langeweile zu überbrücken und sich nicht ganz so allein zu fühlen.“

Sie zeigt uns ihr ehemaliges Schlafzimmer: Eine Matratze liegt in der Ecke, die am weitesten vom Fenster entfernt ist. Das Fenster selbst ist nicht mehr vorhanden, statt der Scheibe wurde eine Plastikfolie mit Panzertape am Rahmen befestigt. Vom Glas ist nichts mehr übrig. Auf der Fensterbank ist eine Collage aus Stickern: Anti-Fascist Action, Nestor Machno, Death to Imperialism, Animal Liberation – Human Liberation, Respect My Existence Or Expect My Resistance, Cats Against Putinism. Gegenüber der Matratze steht ein Bücherregal mit anarchistischer und feministischer Literatur; Emma Goldmans Gesicht schaut uns vom Einband ihrer Autobiographie an, die erst vor ein paar Jahren ins Russische übersetzt worden ist. Kateryna sucht ein paar feministisches Zines heraus.

Die anarchistische Bibliothek in Kyjiw gibt es schon seit 2013, und seit 2017 kümmert sich Kateryna darum. Sie taufte sie Wilna Dumka (Freies Denken) und fand ein Plätzchen für sie in einer anarchistischen Bar, wo außerdem Kneipenabende, Workshops und öffentliche Vorträge veranstaltet wurden, die aber wegen der steigenden Miete schließen musste. Weil es nun keinen öffentlich zugänglichen Raum mehr gibt, können die Bücher online ausgeliehen werden. Auf ihrem Handy scrollt Kateryna durch den Onlinekatalog – die Bibliothek umfasst circa dreihundert Bücher, von klassischen theoretischen Werken des Anarchismus über Memoiren von Aktivist*innen bis hin zu feministischen Texten, Werken zu Ökologie, Tierbefreiung, Migration und Arbeitskämpfen.

Das Ziel der Bibliothek ist es, allen Theorie und Praxis des Anarchismus zugänglich zu machen, die mehr über Konzepte von Freiheit und Gleichheit und den Kampf um Menschenrechte erfahren wollen, gerade auch in einer Zeit, wo die Menschen in der Ukraine um ihre Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen müssen.

Die Bibliothek Wilna Dumka nimmt gerne gespendete Bücher auf Ukrainisch oder Englisch zu Themen wie Anarchismus, Soziales, Umwelt und Feminismus entgegen.
Hier gibt es mehr Infos: https://vdbooks.org/

Auf dem Weg zu unserer Unterkunft kommen wir an Leuten mit auffälligem Make-Up vorbei. Ein paar Frauen tragen Katzenohren, andere haben sich die Gesichter gothicmäßig schwarz-weiß geschminkt. Eine Person in Hochzeitskleid und weißem Schleier flaniert an einer Reihe am Straßenrand geparkter Panzer vorbei. Halloween in Kyjiw.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr früh verlassen wir Kyjiw im Konvoi, um an der humanitären Mission, für die wir Spenden gesammelt haben, teilzunehmen. Sie wird von Oksana von Solidarity Collectives organisiert. Sie ist verantwortlich für den humanitären Bereich der Organisation und ist quasi permanent unterwegs, um Kontakte zu Graswurzelinitiativen in den Regionen nahe der Front zu knüpfen oder Tiere aus verlassenen Dörfern und Städten zu evakuieren. Nach ein paar Stunden Fahrt hört die perfekt instand gesetzte Autobahn auf, die Straßen werden holpriger und enger. Wir kommen durch Dörfer und Städte mit vielstöckigen Wohnblocks, fahren durch Dnipro und erreichen schließlich Pawlohrad, eine Hunderttausend-Einwohner-Stadt, die vom allgegenwärtigen Bergbausektor geprägt ist. Die Fahrt dauert neun Stunden.

Wir halten am kleinen Haus von Olha, das nur eine Außentoilette hat und in dessen Hof sich ein paar Menschen versammelt haben – geflüchtete Familien, von denen manche ihr Zuhause nun schon zum zweiten Mal verlassen mussten. Viele kommen aus Dobropillja und anderen Bergbaustädten in der Oblast Donezk. Olha, die sich hier in der Stadt um die humanitäre Unterstützung kümmert, nutzt dafür ihren eigenen Hof und die Garage.

Wir entladen die Autos: Decken, Kissen, Miniöfen, Mikrowellen, Wasserkocher, Tierfutter, Spielsachen, Powerbanks, Küchenutensilien, Elektroheizungen, alles Dinge, die wir in Dresden gesammelt oder mithilfe von Spendengeldern in Kyjiw gekauft haben. Leute aus dem Viertel helfen uns, es bildet sich eine Kette, alle wollen etwas tun. Danach reihen sich Menschen vor der Garage auf, um Dinge mitzunehmen, die sie brauchen, während Olha zusammen mit ein paar anderen die Verteilung organisiert. Sie kniet am Boden, um Hunde- und Katzenfutter aus großen Säcken auf kleinere Tüten, die die Leute mitgebracht haben, aufzuteilen.

Olha engagiert sich schon seit 2014 ehrenamtlich und hat zunächst vor allem Soldat*innen unterstützt. Nach dem großangelegten Einmarsch Russlands verlagerte sich ihre Arbeit auf die Unterstützung von Geflüchteten. In Dobropillja hatte sie ein Büro und kooperierte mit verschiedenen Initiativen, darunter auch Solidarity Collectives. Aber als die russische Armee im August 2025 damit begann, die Stadt intensiv mit Präzisionsbomben anzugreifen, musste auch sie selbst die Flucht ergreifen. Sie ging nach Pawlohrad, wo ihr Mann einen Job in einer der örtlichen Minen angeboten bekam. Sie mieteten und renovierten das kleine Haus auf eigene Rechnung, wie sie betont, obwohl der Lohn ihres Mannes aktuell die einzige Einkommensquelle der Familie ist. Im Moment versucht Olha, sich an die geänderten Umstände anzupassen und ihre Freiwilligenarbeit fortzuführen.

Es ist dunkel geworden. Im Hof ist ein kleiner Tisch mit Keksen, Obst, Tee und Kaffee gedeckt. Wir stehen herum und unterhalten uns. Manche sprechen Russisch, andere Ukrainisch, ein paar Worte auf Englisch, es wird genickt. Viele der Anwesenden sind in der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft der Ukraine organisiert.Sie erzählen, wie sich ihre Arbeit in den Bergwerken durch den Krieg verändert hat, dass sie weiter für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, aber auch, dass sie Spenden sammeln, um Gewerkschaftsmitglieder zu unterstützen, die an der Front sind. Einer von ihnen, ein Bergarbeiter aus Pawlohrad selbst hilft Menschen, die fliehen mussten, eine Arbeit in einem der örtlichen Bergwerke zu finden. Ein anderer zeigt uns ein Standbild aus dem Film 20 Days in Mariupol und deutet auf einen großen Plattenbau, der gerade von einem Geschoss getroffen wird: „Das dort ist mein Balkon“, sagt er leise. Er hat alles verloren und glaubt nicht, dass er irgendeine Form von Entschädigung bekommen wird, selbst wenn der Krieg enden sollte. Er trägt eine Kopflampe und wir können nur das Licht, das von ihr ausgeht, und unsere eigenen Schatten sehen, während wir im Hof stehen und Tee schlürfen.

Das Handy eines anderen gibt ein Geräusch wie von plätscherndem Wasser von sich – sein Benachrichtigungston für den Luftalarm. Sichtlich nervös ruft er jemanden an. In der Ferne hören wir eine Shahed-Drohne. Jemand sagt, dass sie wie Motorräder von Weitem klingen. Darauf folgt das tiefe Wummern der Luftabwehr. Die Drohne wurde abgeschossen.

Wir machen uns auf den Weg nach Poltawa, wo wir in einem Hotel die Nacht verbringen wollen, aber auf halber Strecke gerät das Auto von Solidarity Collectives in ein tiefes Schlagloch und trägt gleich zwei Platten davon. Eine gefühlte Ewigkeit lang suchen wir einerseits nach einer Person, die das defekte Fahrzeug abtransportiert, und andererseits nach einer Werkstatt, die es bis zum nächsten Morgen repariert. Nach dutzenden Telefonaten und endlosem Herumfragen haben wir endlich Glück. Kurz vor Beginn der Ausgangssperre erreichen wir unser Hotel.

Nach einer kurzen Nacht fahren wir weiter nach Sumy, eine Großstadt mit circa zweihundertfünfzigtausend Einwohner*innen, die nur dreißig Kilometer von der Front entfernt liegt. Wir kommen durch eine Gegend, die in den ersten Monaten nach der Invasion von Russland besetzt gewesen ist. Viele Wegweise sind mit Sprühfarbe unkenntlich gemacht – um die russischen Angreifer*innen zu verwirren, sagt eine Person. Von vielen Reklametafeln am Straßenrand hängen nur noch Plakatfetzen, andere sind mit neuen Werbepostern für diese oder jene Einheit oder für Lebensmittel bestückt.

An einer Tankstelle auf halber Strecke ermahnen uns unsere ukrainischen Freund*innen, je zwei Tourniquets pro Person bei uns zu tragen, falls wir schwer verwundet werden sollten. „Wenn ihr eine Shahed-Drohne seht, parkt unter einem Baum“, sagt einer. „Und wenn ihr uns rennen seht, dann tut es uns nach.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen fahren wir an zerstörten Brücken, frisch angelegten Schützengräben und Kontrollposten vorbei und erreichen schließlich Sumy.

Dort werden wir von Anja in Empfang genommen, die uns bei der Parkplatzsuche hilft und uns dann durch einen schmalen Durchgang führt. Eine Frau in einer stylischen Jacke und mit zwei warm eingepackten Hündchen an der Leine läuft vorüber. Anja führt uns in ein Café, in dem es vor Plastikspinnen und -spinnweben und Halloween-Kürbis-Deko nur so wimmelt. Hier scheinen die Uhren langsamer zu ticken. Das Café gehört ihr, sie hat es von den vorherigen Besitzer*innen, die die Stadt verlassen haben, übernommen. Sie spendiert uns einen Kaffee. Nur dreißig Kilometer vom Kampfgebiet entfernt gibt es hier vegane Milch und Schlagsahne und Halloween-Sondereditionen, wie zum Beispiel den „Schauerchiato“ mit Bananensirup und passenden Toppings. Kaffee für Soldat*innen geht aufs Haus. Besucher*innen können ein Getränk spenden und eine kleine Nachricht hinterlassen, um die Kämpfenden aufzumuntern.

Anja holt ihr Handy hervor und zeigt uns Bilder von sich selbst und anderen Frauen aus Sumy beim Schießtraining. Ein ehemaliger Armeeoffizier gibt ihnen Workshops zu taktischer erster Hilfe und zum Umgang mit Waffen. Tagsüber arbeitet sie als Ärztin. Sie ist immer in Bewegung und hilft ihrer Community, wo sie nur kann.

Wir bringen unsere Spenden zu einem ehemaligen Studentenwohnheim, wo aktuell ältere Geflüchtete aus den Regionen weiter östlich untergebracht sind. Über den Boden des Aufenthaltsraums sind rosa und weiße Ballons verteilt, als ob gerade erst eine Geburtstagsparty stattgefunden hätte. Die meisten Leute leben schon mehr als ein Jahr hier und kommen aus kleinen Dörfern an der russischen Grenze, die komplett zerstört worden sind.

Wir sprechen mit einem älteren Ehepaar, Wolodymyr und Tamara, deren Tochter im Zuge eines Raketenangriffs getötet wurde. Tamara hat ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet, in einem Bergwerk und bei Be- und Entladen von Güterzügen, um ihren Kindern ein eigenes Haus vermachen zu können. All das ist nun weg. Sie sagen, sie sind schon alt und werden das Kriegsende wohl nicht mehr erleben, aber sie hoffen, dass sie nicht durch Beschuss oder im Keller, in dem sie vor den Bomben Schutz suchen, sterben müssen.

Eine andere Bewohnerin, Swetlana, erzählt uns, wie sie aus Mariupol entkommen ist. Nach dem Beginn der Invasion verbrachte sie einen Monat in der besetzten Stadt, die Hölle auf Erden, wie sie sagt. Ständig habe es Beschuss und Bombenabwürfe gegeben, außer während einer bestimmten Stunde pro Tag, in der die russische Armee möglicherweise Mittagspause gehabt habe. Sie musste dabei zusehen, wie Stadtteile bombardiert wurden, in die sie die russischen Soldat*innen vorher geschickt hatten, um evakuiert zu werden. Die Türen und die Küche ihrer Wohnung seien durch Raketenbeschuss komplett zerstört worden. Ihre Schwiegermutter und sie hätten überlebt, weil sie sich nah am Fahrstuhlschacht aufgehalten hatten. Als sie auf der Suche nach einem Ausweg durch die Stadt irrte, habe sie Leichen hinter Stellwänden liegen sehen, auf deren Vorderseite russki mir gestanden habe – „Russische Welt“. „Ja“, sagt sie. „Das ist die russische Welt, nur Blut, Tod und Leichen.“ Sie schaffte es nach Berdjansk, eine besetzte Stadt westlich von Mariupol, und wurde schließlich von Roten Kreuz evakuiert. Auf dem Weg musste der Bus vierunddreißig Kontrollposten passieren, wovon jeder einzelne alle männlichen Insassen durchsucht und ihre Handys überprüft habe. Swetlana erzählt, wie ihr Gehirn in der Zeit in Mariupol auf eine Art Schutzmodus umgestellt habe. Wie sie tagelang regungslos die Wand angestarrt habe. Wie sie nach ihrer Rettung tagelang geweint habe und heftige Depressionen bekam, unsicher gewesen sei, ob sie noch weiterleben wolle.

Diese Geschichten führen uns den Horror des Krieges mit aller Härte vor Augen, und es fällt uns schwer, uns von unseren neuen Bekannten zu trennen, aber wir müssen los, bevor es dunkel wird die Luftangriffe wieder losgehen. Wir fahren mitten hinein in einen dramatischen, glutroten Sonnenuntergang, zurück nach Kyjiw.

Am darauffolgenden Abend veranstalten wir eine kleine Diskussionsrunde in einem antifaschistischen Trainingsraum. Wir sitzen auf Matten, Boxsäcke im Rücken, eine grüne Antifa-Flagge mit Rojava-Emblemen über uns, eine Pride-Flagge an der Wand gegenüber. Wir erzählen Aktivist*innen von hier über unsere Solidaritätsarbeit, über die Lage und den aufenthaltsrechtlichen Status von ukrainischen Geflüchteten in Deutschland, über den „toxischen Antimilitarismus“ mancher westeuropäischer Linker, die die Unterstützung derer, die dem russischen Imperialismus Widerstand leisten, ablehnen. Auch die Berliner anarchistische Buchmesse wird erwähnt, die kurz zuvor Genoss*innen aus Osteuropa, die Soliarbeit machen, ausgeladen hat – als ein Beispiel von vielen.

Der Sportraum, den wir für die Veranstaltung nutzen können, ist selbstorganisiert. Dort werden Box- und Fitnesstraining angeboten, aber der Ort wird nach Möglichkeit eben auch für politische Veranstaltungen zur Verfügung gestellt. Viele, die hier Trainings gegeben haben, sind jetzt an der Front. Die Miete und der Unterhalt des Raumes wird durch Spenden finanziert.

Wenn ihr spenden könnt, tut das gerne hier: https://send.monobank.ua/jar/6a2pKZJxvs

An unserem letzten Tag in Kyjiw besuchen wir die riesige Ausstellung Ukraine WOW am Hauptbahnhof, bei der es sich nicht um ein aktivistisches als vielmehr um ein kulturelles Projekt handelt. Mithilfe von Geografie, Geschichte und Kunst wird die Entwicklung der Ukraine nacherzählt – eine Möglichkeit, die eigene Identität zurückzugewinnen und der russischen Propaganda etwas entgegenzusetzen.

Unter anderem bleiben uns die ausgestellten Werke von Maria Prymachenko, einer aus der Nähe von Tschornobyl stammenden autodidaktischen Vertreterin der naiven Kunst, im Gedächtnis. Nach nur vier Jahren Schule erkrankte sie an Polio, wovon sie körperliche Beeinträchtigungen behielt, die ihren weiteren Lebensweg und ihre Kunst entscheidend prägen sollten. Ihre Gemälde und Stickereien sind knallbunt und wimmeln von merkwürdigen, freudvollen Geschöpfen: Löwen, oder vielleicht auch Stieren mit Tigerstreifen auf rosa Gras, Motive, die ihren Ursprung in Märchen und volkstümlichen Traditionen haben.

Auf dem Weg zurück nach Deutschland verschwindet irgendwo auf der Autobahn in Polen das Internetsignal – als würde es von einem schwarzen Loch eingesaugt.

Diese langen und gleichzeitig viel zu kurzen Tage waren voller Widersprüche. Es gab Momente, in denen Leute sagen, alles sei in Ordnung, obwohl ihnen die Erschöpfung deutlich ins Gesicht geschrieben steht, und Momente, in denen wir unseren Halloween-Latte schlürfen und gleichzeitig jederzeit damit rechnen müssen, dass über unseren Köpfen plötzlich eine Drohne auftaucht. Manchmal war die Nähe des Krieges überdeutlich spürbar, manchmal vergaßen wir ihn beinahe. Nachdem wir Vertriebene von ihren ermordeten Verwandten und Freund*innen erzählen hören und die materiellen Konsequenzen dieses Krieges mit unseren eigenen Augen gesehen haben, ist es umso schwerer, ruhig zu bleiben angesichts des Moralisierens und der Voreingenommenheit mancher westlicher Linker. Unsere uneingeschränkte Solidarität gehört allen, die gerade diesen Krieg durchmachen müssen, und denen, die ihm weiter die Stirn bieten.

(A)

Vergesst nicht, dass wir immer noch Spenden sammeln. Tragt gern etwas bei:
https://www.betterplace.org/en/projects/162495

Die Namen der genannten Personen wurden zu ihrem Schutz geändert.

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